Dieses liebenswerte Buch des späten Mittelalters führt uns in einzigartiger Weise auf 15 ganzseitigen Miniaturen, begleitet von 12 symbolträchtigen Ornamentseiten, die höfische Liebe vor Augen. Der gemeinsame Tanz, der gemeinschaftliche Ausritt, liebevolles Zusammensein in Vertrautheit, Freude und Trauer - alle Seelenzustände des menschlichen Seins finden ihren Ausdruck in den zarten Miniaturseiten einer Liebesgeschichte aus dem Frankreich des beginnenden 16. Jahrhunderts. Die reine Bilderhandschrift ist voller Farb- und Formensymbolik, charakteristisch für die Zeit, ein unerschöpfliches Kompendium der mittelalterlichen Symbolsprache, die uns in all ihrer Variation viele Interpretationen ermöglicht und einen tiefen Einblick in die Verhaltensweisen und Umgangsformen an einem französischen Hof des christlichen Abendlandes bietet. Die Bilderfolge lädt uns ein, jede Seite als unabhängige Momentaufnahme wahrzunehmen und zugleich als Bildszene einer Liebesepik zu lesen, die auf dem Verständnis der Zeit basiert. Selbst nach 500 Jahren hat die liebvolle Bildpoesie und die Mystik der Ornamente nichts eingebüßt. Die Sensibilität des Malers und sein Wunsch, dem menschlichsten aller Gefühle Ausdruck zu verleihen, spiegelt sich auf jeder Seite wider. Wir kennen keine weltliche Handschrift dieses Inhaltes, ebenso wenig einen Text, der zu den Bildern inspiriert haben könnte - einige Rätsel, die uns die Handschrift aufgibt, werden wohl nie gelöst werden. Die Tatsache, dass die Handschrift keinerlei Text aufweist, bis auf zwei Randleisten und eine versteckte Buchstabenfolge, und uns nur in ihren eloquenten Bildern erzählt, macht sie zu einem Unikum der Geschichte der Buchmalerei. Den klar französisch geprägten Bildseiten stehen die Ornamentblätter italienischen Stils gegenüber. Es ist die Geschichte zweier Liebender in einer Welt an der Schwelle zur Neuzeit. Der Szenenkomplex im Zeichen der Epik der Zeit, steht ganz in der Tradition des Rosenromans und der zeitgenössischen Liebesdichtung. Allegorien und Metaphern füllen die Seiten und laden den Betrachter zu einem Zwiegespräch. Die Bilder selbst erzählen ihre eigene Geschichte aus einer Perspektive, die mit dem Wissen des Lesers spielt, ihn einlädt, sich auf das kokette Spiel einzulassen. Der Erbe des Schlosses von Chantilly, der Duc d’Aumale, erwarb 1859 die gesamte Bibliothek des Armand Cigogne und damit auch das kleine Büchlein. Der berühmte Buchbinder Joseph Thouvenin band die Handschrift anschließend in einen zarten grünen Ledereinband mit Goldprägung und rotem Leder-Spiegel.1884 hinterließ der kinderlose Duc Chantilly und seine Sammlung dem Institut de France. Die Handschrift wird heute unter der Signatur Ms. 388 in der Bibliothek des Musée Condé aufbewahrt.