Einem Blinden ist mit einem Mal die Gnade gegönnt, wieder sehen zu können - so könnte man die Wirkung von Turners Gemälden auf den Betrachter beschreiben. John Ruskin, im 19. Jahrhundert ein kompromissloser Fürsprecher der Malerei William Turners, sprach von der »Unschuld des Auges«, das die Farben und Formen der Welt wahrnimmt, bevor es deren Bedeutung erkennt. Doch um diesen - seinen - Stil entwickeln zu können, musste Turner zunächst den ganzen akademischen Ballast der Lehren des Spätbarock hinter sich lassen. Er war Romantiker und Realist zugleich, doch eigentlich weder das eine noch das andere. Seine Landschaftsbilder, die weit über seine Epoche hinauswiesen, wurden als Vorwegnahme des Impressionismus betrachtet, aber sie haben auch Merkmale, die den Expressionismus beeinflussten, und viele seiner Spätwerke könnte man als durch und durch surrealistisch bezeichnen. In Wirklichkeit kann Turners Kunst nicht in solche Klassifizierungen gefasst werden: Ihr Wesen ist selbst heute noch der Kunstgeschichte ein Rätsel. Sein Werk erwuchs aus einer einzigartigen Beziehung zu der Natur, die er darstellte: Über brillante Zeichnungen fand er bereits im 19. Jahrhundert seinen Weg zu einer rigoros offenen Malerei, in der die Natur den freien Umgang mit Farben inspiriert. Und über das Wirken der Elemente der Natur, insbesondere des atmosphärischen Lichts, sah sich Turner einer Natur gegenüber, die selbst Bild war. Dieses Buch bietet die notwendigen Erläuterungen, die dem Betrachter die Augen für Turners Malerei öffnen können. Es zeigt auf, dass Turner die Natur nicht schlicht veranschaulichte, sondern dass seine Bilder - wie die Natur - das Auge unmittelbar ansprechen: über eine Welt aus Licht und Farbe.