Phantastische Bilder eines großen Ritterturniers, des »Pas de Saumur«! Die wahrscheinlich vom Turnierherrn René d’Anjou in Auftrag gegebene, von einem anonymen Autor verfasste Handschrift vermittelt ein eindrucksvolles Bild jenes großen Turniers, zu dem der Herzog von Anjou im Sommer 1446 die Elite des französischen Hochadels auf sein an der Loire gelegenes Schloss bei Saumur zusammengerufen hatte. Mehr als 90 Ritter waren dieser Einladung gefolgt, um an den Festlichkeiten teilzunehmen und im Kampf ihre Bravour und Tapferkeit unter Beweis zu stellen. Der in 3952 Versen abgefasste Text enthält neben detailreichen Beschreibungen der phantasievollen Bekleidung und der kostbaren Waffen der Akteure auch Aussagen über die tiefere Bedeutung eines Turniers für die zeitgenössische Rittergesellschaft und Hinweise auf den Verhaltens- und Ehrencodex, dem sich jeder Teilnehmer unterwerfen musste. Der Text macht deutlich, dass alles an diesem Turnier Inszenierung war: Die Teilnehmer verkörperten Rollen in einem Spiel, das nach einem streng vorgegebenen höfisch-erotischen Zeremoniell ablief und in dem das Thema Liebe sowohl Anlass als auch treibende Kraft war. 90 farbenprächtig aquarellierte Federzeichnungen, die die entscheidenden Abschnitte des ritterlichen Kampfspieles illustrieren, setzen die poetischen Sprachbilder des Textes in eine ausdrucksstarke Bildsprache um. Der feierliche Einzug der Turnierteilnehmer, die Wahl des Gegners durch Berühren seines an einem Wappenbaum hängenden Schildes mit dem Speer; das Aufrufen der Kontrahenten zum Kampf; der Zweikampf der schwer gerüsteten Reiter und die Ehrung der Sieger - das sind die Motive, die, meisterhaft komponiert, hier zu bewundern sind. Mit ihrem eindeutigen Bezug auf das Turnier von Saumur stellt diese Handschrift eines jener seltenen Dokumente dar, in denen ein Ritterspiel als realhistorisches Ereignis vorgeführt wird. Darin liegt ihr unschätzbarer Wert als Quelle für die höfische Kultur des Mittelalters. Der in deutscher Sprache verfasste Kommentar wurde von einem Team von Wissenschaftlern der Russischen Nationalbibliothek erarbeitet und enthält neben Beiträgen zu Geschichte, Aufbau und künstlerischer Bedeutung der Handschrift auch eine vollständige Transkription des altfranzösischen Originaltextes.